al-Samidoun

Kommentare und Berichte zu Politik, Religion und Kultur mit Fokus auf den Nahen Osten.

Donnerstag, 26. Januar 2012

...ruft das Kopftuch

Heute Mittag las ich in einem Buch einen mehr oder weniger interessanten Gedanken zum islamischen Kopftuch. Gegen Abend stieß ich dann auf so etwas wie eine Bestätigung der These in Form eines Twitter-Beitrages. Doch der Reihe nach:
Hinter der Aufregung über ein symbolisch aufgeladenes Stück Stoff, das islamische Kopftuch, steckt über die manifesten Einwände hinaus eine tief verwurzelte Angst vor der Überfremdung unserer Gesellschaft, eine Überfremdung, die sich für so manchen von der Xenophobie Heimgesuchten in einem unschuldigen Textil verdichtet. Kraft einer mysteriösen „Transsubstantiation“ soll in jenem Stück Stoff der Ungeist des Fundamentalismus und der Diskriminierung der Frau unmittelbar gegenwärtig sein.
[…]
So dient das Kopftuch zwar radikalen Strömungen des Islam, um ihre Gesinnung auszudrücken, aber nicht jeder, der das Kopftuch trägt, ist Fundamentalist. Das Gleiche lässt sich auch für das christliche Kreuz behaupten. Christliche Fundamentalisten bedienen sich des Kreuzes als Glaubenssymbol, aber längst nicht jeder, der das Kreuz trägt, ist deshalb christlicher Fundamentalist.
Dem entspricht ja auch die Tatsache, dass heute auch junge, emanzipierte muslimische Frauen das Tuch tragen, das in diesem Sinn keineswegs Ausdruck der präsumtiven Unterdrückung der Frau ist.
Entscheidend ist also nicht das Kopftuch, sondern das Verhalten der Trägerin. Das Textil begründet keineswegs hinreichend die Annahme einer verfassungswidrigen Gesinnung der Trägerin. Die Vertreter einer so begründeten Ablehnung laufen Gefahr, einem negativen Textilfetischismus zu verfallen. An die Stelle der zu Recht bekämpften Gesinnung tritt ein Stück Stoff.*
Textilfetischismus? Der Ungeist des Fundamentalismus und der Diskriminierung der Frau unmittelbar in einem Stück Stoff gegenwärtig, fast so, als sei das Kopftuch selbst ein lebendiges und handelndes Wesen?


Erstaunlich was "das Kopftuch dieser Kübra" so alles fertig bringt.


*Anselm Vogt, Zwischen Beliebigkeit und Fundamentalismus, Oberhausen, 2007, S.86f.

Montag, 23. Januar 2012

Žižek II: Lanzmanns Tsahal

Ein weiterer Absatz aus Žižeks Buch "Die bösen Geister des himmlischen Bereichs":
„In meiner Familie liegt das Militärische nicht in den Genen“, sagt einer der interviewten Soldaten, der zu seiner eigenen Überraschung Karriereoffizier geworden ist, in Claude Lanzmanns Film Tsahal (1994; Tsahal ist ein hebräisches Akronym für die israelische Armee). Ironischerweise fogt Lanzmann darin demselben Hang zur Vermenschlichung wie Steven Spielberg, den er ansonsten zutiefst verachtet.
Wie schon in Shoah arbeitet Lanzmann in Tsahal nur in der Gegenwart und lehnt Kriegsszenen aus dem Archiv oder erklärende Kommentare, die das Geschehen in einen historischen Kontext einordnen würden, ab. Gleich am Anfang werden wir in media res geworfen: Mehrere Offiziere erinnern sich an die Schrecken des Jom-Kippur-Krieges von 1973, während im Hintergrund ein Aufnahmegerät zu sehen ist, das die authentischen Mitschnitte des Moments der Panik wiedergibt, als die israelischen Einheiten auf der Ostseite des Sueskanals von ägyptischen Soldaten überrannt wurden. Diese „Klanglandschaft“ dient als Auslöser, um die interviewten (ehemaligen) Soldaten in ihr traumatisches Erlebnis zurückzuversetzen. Schwitzend durchleben sie noch einmal jene Situation, in der viele ihrer Kameraden fielen, und reagieren darauf, indem sie ihre menschlichen Schwächen, Panik und Furcht vollkommen eingestehen – manche geben offen zu, dass sie nicht nur um ihr Leben, sondern um die Existenz des ganzen Staates Israel fürchteten. Ein weiterer Aspekt der Vermenschlichung ist die intime, „animistische“ Beziehung zu Waffen, insbesondere Panzern – einer der Soldaten sagt im Interview über Panzer: „Sie haben Seelen. Wenn du einem Panzer deine Liebe schenkst, deine Aufmerksamkeit, wird er dir alles zurückgeben.“

Lanzmanns Fokussierung auf die Erfahrung des permanenten Ausnahmezustands und der drohenden Vernichtung, welche die israelischen Soldaten machen mussten, wird normalerweise als Rechtfertigung dafür herangezogen, dass die palästinensische Perspektive ausgeschlossen bleibt. Erst gegen Ende des Films sieht man sie anonym im Hintergrund, wie sie de facto als unterprivilegierte Klasse behandelt, militärischen und polizeilichen Kontrollen unterworfen und mit bürokratischen Verfahren schikaniert werden; die einzige ausdrückliche Kritik an der israelischen Politik im Film kommt allerdings von den interviewten Schriftstellern und Anwälten (Avigdor Feldman, David Grossman, Amos Oz). Eine wohlwollende Interpretation könnte ins Feld führen (wie es Janet Maslin in ihrer Rezension von Tsahal in der New York Times getan hat), dass „Lanzmann diese Gesichter für sich sprechen lässt“, dass er die Unterdrückung der Palästinenser als Hintergrundpräsenz in Erscheinung treten lässt, die durch ihr Schweigen umso überwältigender wirkt – aber ist das wirklich so? Eine Schlüsselszene gegen Ende des Films, in der Lanzmann mit einem israelischen Bauunternehmer diskutiert, beschreibt Maslin so:

„'Wenn die Araber wissen, dass es hier bis in alle Ewigkeit Juden geben wird, werden sie lernen, damit zu leben', behauptet dieser Mann, dessen neue Häuser auf besetztem Gebiet gebaut werden. Hinter ihm arbeiten eifrig arabische Handwerker, während er redet. Als er mit den heiklen Fragen konfrontiert wird, die der Siedlungsbau aufwirft, verstrickt sich der Mann in Widersprüche und schaltet auf stur. 'Dies ist das Land Israel', beharrt er immer dann, wenn Mr. Lanzmann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Verhältnis des israelischen Volkes zu seinem Land zu erforschen, eine der vielen Fragen stellt, auf die es keine Antworten gibt. Schließlich gibt der Regisseur die Diskussion auf, lächelt philosophisch und umarmt den Bauunternehmer. In diesem Moment bringt er all die Wehmut und die Frustration, die in Tsahal zu sehen sind, zum Ausdruck, und er schafft dies in einer einzigen Geste.“³

Würde Lanzmann auch den arabischen Handwerker im Hintergrund philosophisch anlächeln und umarmen, wenn dieser im Interview in wütende Raserei gegen die Israelis ausbrechen würde, die ihn zu einem bezahlten Instrument des Raubes an seinem eigenen Land degradieren? Darin liegt die ideologische Ambiguität von Tsahal: Die interviewten Soldaten spielen die Rollen ihres „normalen menschlichen Selbst“, sie inszenieren die Maske, die sie sich zur Vermenschlichung ihrer Taten geschaffen haben. Diese ideologische Mystifikation (bei der die ideologische Maske als „normales menschliches Inneres“ präsentiert wird) erreicht ihren unübertroffenen ironischen Höhepunkt mit dem Auftritt von Ariel Sharon als friedlicher Bauer.

³ Janet Maslin, "Tsahal; Lanzmann's Meditation On Israel's Defense", in: New York Times, 27. Januar 1995.
Slavoj Žižek, Die bösen Geister des himmlischen Bereichs, Frankfurt am Main, 2011, S.246ff.

Sonntag, 22. Januar 2012

Žižek I: "Vermenschlichung"

Ein Absatz aus Žižeks Buch "Die bösen Geister des himmlischen Bereichs":
Dieselbe Strategie der ideologischen „Vermenschlichung“ (im Sinne der sprichwörtlichen Weisheit „Irren ist Menschlich“) ist auch eine Schlüsselkomponente der ideologischen (Selbst-)Darstellung der israelischen Streitkräfte. Die israelischen Medien gehen gerne ausführlich auf die Unvollkommenheiten und psychischen Probleme der israelischen Soldaten ein und stellen sie weder als perfekte Kampfmaschinen noch als übermenschliche Helden, sondern als ganz normale Menschen dar, die, gefangen in den Traumata der Geschichte und des Krieges, Fehler begehen und die Orientierung verlieren können, wie jeder andere auch. Als etwa die israelische Armee im Januar 2003 das Haus der Familie eines mutmaßlichen „Terroristen“ zerstörte, ging sie mit betonter Liebenswürdigkeit vor und half der Familie sogar noch, ihre Möbel aus dem Haus zu schaffen, bevor sie es mit dem Bulldozer planierte. Kurz zuvor hatte die israelische Presse über einen ähnlichen Vorfall berichtet: Als ein israelischer Soldat ein palästinensisches Haus nach Verdächtigen durchsuchte, rief die Mutter ihre Tochter beim Namen, um sie zu beruhigen, und der verdutzte Soldat musste feststellen, dass das verschreckte Mädchen genauso hieß wie seine eigene Tochter; in einem Anfall von Sentimentalität zückte er seine Brieftasche und zeigte ihr Bild der palästinensischen Mutter. Die Falschheit einer solchen Empathiegeste ist leicht zu erkennen: Die Vorstellung, dass wir trotz aller politischen Differenzen doch Menschen mit denselben Vorlieben und Sorgen sind, neutralisiert die Wirkung dessen, was der Soldat tatsächlich gerade tut. Die einzig richtige Antwort der Mutter müsste also lauten: „Wenn Sie wirklich ein Mensch sind wie ich, warum tun Sie dann, was Sie gerade tun?“ Der Soldat kann sich dann nur noch auf seine verdinglichte Pflicht berufen: „Es gefällt mir nicht, aber es ist meine Pflicht...“ - und so der subjektiven Annahme seiner Pflicht entgehen. Vermenschlichungen dieser Art sollen die Kluft verdeutlichen, die zwischen der komplexen Realität der Person und der Rolle, die sie entgegen ihrer wahren Natur spielen muss, herrscht.
Slavoj Žižek, Die bösen Geister des himmlischen Bereichs, Frankfurt am Main, 2011, S.245f.